Film
Anmaßung
Wie nahe wollen wir einem Mörder kommen? Welche Möglichkeiten des Verstehens gibt es? Oder ist das nur Anmaßung? - Der Versuch einer Annäherung von Stefan Kolbe und Chris Wright.
- Produktionsland und -jahr:
-
Deutschland 2021
- Datum:
- Verfügbar
- weltweit
- Verfügbar bis:
- bis 31.01.2023
Der erste Eindruck hatte getrogen: Der höfliche, schüchterne Mann, den die beiden Filmemacher in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg kennenlernten, war ein eiskalter Frauenmörder, so die Einschätzung des Justizbeamten. Doch sie wollten mehr erfahren.
Das Autoren-Duo begleitete Stefan S. in den letzten vier Jahren seiner Haftzeit von 2015 bis 2019. Sie luden ihn zum Besuch nach Berlin während seiner ersten Freigänge ein und gingen beim Vietnamesen um die Ecke mit ihm essen. Sie versuchten, Licht in seine Vergangenheit und in sein Dasein als Häftling zu bringen, der sämtliche Module der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Brandenburg absolvieren durfte, die zu den europaweit fortschrittlichsten Programmen in der Behandlung von Gewalt- und Sexualstraftätern zählen.
Da sie aus Gründen des Personenschutzes sein Gesicht nicht zeigen dürfen, stellen sie an seiner statt eine Puppe auf die Bühne. Zwei Puppenspielerinnen erforschen nun mit ihnen das rätselhafte Wesen des Stefan S. Kennenlernen jedoch will keine von beiden den realen Mann, der als Facharbeiter einst eine Arbeitskollegin zu Tode gewürgt hatte.
Als Team setzen sie sich den Gerichtsakten aus, als Team erfahren sie die "Banalität des Bösen". "Alles, was wir hier tun, ist anmaßend", sind sie sich einig. Und dennoch gelingt ihnen ein ungewöhnlicher Einblick sowohl in die Seelenlandschaft eines Täters wie auch in den Alltag des deutschen Strafvollzugs.
"Anmaßung" feierte im Forum der Berlinale 2021 seine Premiere. Stefan Kolbe und Chris Wright, beide Jahrgang 1972, studierten gemeinsam an der Hochschule für Film- und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam. Für 3sat realisierten sie zuletzt für die Reihe "Ab18!" den mittellangen Film "Mutterglück" über eine junge Frau aus Sachsen-Anhalt, die im Waisenhaus aufgewachsen war und mit 19 Jahren Mutter wurde.
Credits: Anmaßung, Dokumentarfilm, Deutschland 2021; Regie, Buch: Stefan Kolbe, Chris Wright; Kamera: Stefan Kolbe; Montage: Chris Wright; Musik: Johannes Winde; Ton: Chris Wright; Produktionsleitung: Tina Börner; Produzent: Heino Deckert.
Interview mit dem Autorenduo Stefan Kolbe und Chris Wright
Sie haben sich bereits in Ihren mit 3sat koproduzierten Vorgängerfilmen "Das Block" und "Mutterglück" für Randgestalten der Gesellschaft interessiert. Nun sind Sie mit "Anmaßung" noch einen Schritt weitergegangen und zeichnen das Porträt eines Mörders. Warum?
Die Neugierde, das rein subjektive Interesse am Menschen treibt uns, sicher nicht die Suche nach "Randgestalten der Gesellschaft". Interessant, dass wir sie offensichtlich meist dort finden, wo viele den Rand der Gesellschaft verorten. Vielleicht sind es die oft existenziellen Momente, in denen wir unseren Protagonisten begegnen, durch die der Zuschauer sie als Randgestalten betrachtet. Aber wenn wir uns auf das Bild "Randgestalt" einlassen: Ränder rahmen die Gesellschaft und manchmal ist der Rahmen interessanter oder größer als das Bild. Und an den Rändern spüren wir unsere eigene Begrenztheit, konfrontieren uns mit uns. Und darum geht es uns sicher immer auch: um unser Blicken auf andere Menschen, um die Tücken von Subjektivität und Wahrheit insbesondere auch bei der dokumentarischen Arbeit.
Anmaßung ist kein Film über einen Mörder. Es ist zuerst ein Film über das Bild, das wir entwickeln, wenn wir versuchen uns ein Bild von jemand zu machen. Das mag im Nachhinein unwahrscheinlich klingen, aber wir hatten nicht vor, einen Mörder zur Grundlage dieses Experiments zu machen. Es war Zufall. Auch wenn die Erinnerung einen dazu verlockt, daraus etwas anderes zu machen.
Ursprünglich hatten Sie als Filmtitel "Wahrheit" in Erwägung gezogen, es schien Ihnen dann doch etwas pathetisch. Was ist die Wahrheit von Anmaßung?
Es gibt keine Wahrheit. Es gibt jeweilige Wahrheiten. Und dann doch eine absolute, unverzeihliche: Das Opfer von Stefan S. lebt nicht mehr.
Haben Sie das Gefühl, Ihren Protagonisten, den Sie aus Personenschutzgründen als Puppe nachbilden, "entschlüsselt" oder verstanden zu haben?
Nein, ganz sicher nicht. Wir haben uns unser kümmerliches Bild von ihm gemacht. Es sind bei uns jeweils zwei sehr unterschiedliche, unscharfe, klischeebehaftete, gefühlsgetriebene Bilder entstanden, die wir versuchen - unter anderen - im Film anzudeuten. Das ist alles. Die Puppe haben wir zuerst benutzt, um den Zuschauer dazu zu zwingen, sich ausschließlich auf Grundlage der verschiedenen Erzählungen über Stefan im Film, ein Bild von ihm machen zu müssen - ohne ihn sehen zu können. Gefangen zu sein in der eigenen Phantasie, die oft unsere Wahrheiten ausmacht und sich dessen bewusst zu werden. Die Personenschutzsache kam später dazu, weil der Protagonist das schließlich zur Bedingung einer Zusammenarbeit gemacht hat. Beide Aspekte gingen dann irgendwie Hand in Hand.
Wie konnten Sie die Balance zwischen Nähe und Distanz zu Ihrem Protagonisten halten?
Eher schlecht. Dokumentarfilmen, so wie wir es verstehen, ist leider immer ein ungesunder Balanceakt zwischen Nähe und Distanz mit den Protagonisten. Der künstliche Rahmen der Beziehung, die unnatürliche Geschwindigkeit der Vertrauensbildung, die ungleichen Abhängigkeiten und Intentionen, die ungesunden, latenten Machtverhältnisse, der unauflösbare Selbstbetrug - all das hinterlässt viele ambivalente Reste, die sich schwer ausgleichen. Auch darüber will der Film was erzählen. Man tut weh und es tut oft weh und das ist das letzte was man in irgendeiner Sekunde der Produktion beabsichtigt. Nie.
Würden Sie Ihren Film unter der derzeit beliebten Überschrift "True Crime" rubrizieren, oder entzieht er sich dieser Kategorie?
In der Filmdiskussion bei der Duisburger Filmwoche kamen Vorwürfe, der Film wäre "RTL in Zeitlupe", wir würden den Voyeurismus des True-Crime-Genres reproduzieren. Wir empfinden das nicht so. Der Film bedient sich diverser formaler Mittel, unter anderem werden Tatvorlauf und -ablauf anhand des Gerichtsurteils detailliert erzählt. Bis zur Tötung selbst baut der Film tatsächlich eine Art Spannung auf. Aber parallel dazu erzählen wir zum Beispiel, wie es uns damit ging, den Urteilstext und damit den Tathergang zu lesen: Wir hatten schlicht Angst davor. Wir haben das Urteil erst spät im Drehprozess bekommen, nach fünf Jahren Beschäftigung mit diesem Menschen. Vollständig gelesen haben wir den Text erst, als wir am Tatort waren und versucht haben, dort Bilder zu drehen. Dazu gehörte zum Beispiel, uns vorstellen, von welcher Stelle aus genau Stefan S. sein Opfer regelmäßig heimlich beobachtet hat. Dort haben wir die Kamera hingestellt. Wir haben versucht, durch seine Augen zu schauen, um sein Handeln, das uns immer wieder zutiefst anwiderte, irgendwie fassen zu können. Das war für uns kein voyeuristisches Zuschauen, sondern ein Versuch des sich Hineinversetzens, des verzweifelten Verstehenwollens - oft wider besseren Wissens, dass das schlicht unmöglich ist.
Diese Drehweise war oft schmerzhaft, und wir wollten, dass diese Stellen im Film ebenfalls schmerzen. Unsere Filme wären sicher bequemer zu rezipieren, wenn wir kühler, intellektueller erzählen würden, dadurch emotionale Distanz schaffen und damit wiederum rationalere Reaktionen dem Zuschauer ermöglichen. Diesen Abstand zu unseren Geschichten wollen wir aber nicht. Bei uns sind die formalen Mittel instinktiv gewählte Tools, um unsere subjektiven Gefühle zu transportieren und emotionale Wirkungen zu erzielen.
Interview: Nicole Baum