Gesellschaft
"Krise verstärkt Ungleichheiten"
Kurzarbeit, Jobverlust, Homeoffice - die Corona-Rezession schlägt auf den Arbeitsmarkt durch. Das Wirtschaftsmagazin makro sprach mit Prof. Stefan Sell, was dies konkret bedeutet.
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makro: Die Corona-Pandemie hat Millionen von Angestellten ins Homeoffice verbannt. Und siehe da: Das klappte erstaunlich gut. Inwiefern wird sich dadurch die Arbeitswelt nach Corona verändern?
Stefan Sell: Zuerst einmal muss man festhalten, dass die Homeoffice-Erfahrung eine höchst ungleichgewichtig verteilte ist - vor allem auf die Verwaltungs- und Wissensarbeiter, die zugleich eher im mittleren und höheren Einkommensbereich angesiedelt sind, trifft das zu.
Für die meisten Menschen in dem seit Mitte der 1990er Jahre stark expandierten Niedriglohnsektor stellt sich zum einen - aufgrund ihrer Tätigkeiten - die Homeoffice-Frage gar nicht. Zum anderen waren und sind sie es, die von Anfang an den Laden am Laufen halten und sich dabei auch aufgrund der Nicht-Rückzugsmöglichkeit den größten Risiken aussetzen mussten. Hier ist ja auch der Diskurs über die "systemrelevanten" Berufe verortet, der allerdings schon im Verschwinden begriffen ist.
Generell sollte man höchst skeptisch sein, wenn von epochalen Veränderungen der Arbeitswelt "nach Corona" die Rede ist. Eher das Gegenteil wird der Fall sein - die vielfältigen Prozesse der Polarisierung auf den Arbeitsmärkten zwischen "Gewinnern" und "Verlierern" werden weiter vorangetrieben.
Die "Homeoffice-Welt" wird eine Spielweise für eine überschaubare Gruppe an Arbeitnehmern sein, bei denen sich die Arbeitgeber zugleich im Sinne ihrer Bindung an das Unternehmen bewegen müssen, vermute ich. Für die anderen wird sich nicht mehr und nicht weniger ändern als durch die Prozesse, die schon vor Corona am Wirken waren.
Zur Person
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Arbeitsmarktexperte, Hochschule Koblenz
makro: Wenig erquicklich war die "Back to Homeoffice, Heim und Herd"-Erfahrung für viele berufstätige Frauen. Die Soziologin Jutta Allmendinger fürchtet gar einen Rückschritt um 30 Jahre. Teilen Sie diesen Pessimismus?
Sell: Generell verstärkt die Krise Ungleichheiten. So gab es bereits vor Corona eine Ungleichverteilung vor allem der unbezahlten Arbeit zulasten der Frauen. Hier hat die Krise voll durchgeschlagen. Aber einen Rückschritt in die 1950er Jahre zu befürchten, ist doch arg übertrieben. Das geben die veränderten Vorstellungen von Partnerschaft nicht wirklich her.
Das eigentlich Problem ist doch eher darin zu sehen, dass nicht alle, aber viele Frauen stärker von dieser Krise betroffen sind als Männer: Sie müssen in den Familien überdurchschnittlich die Kita-und Schulschließungen auffangen, sie arbeiten in "Hochrisiko"-Berufen "draußen" und sie sind besonders gebeutelt von dem Lockdown, der diesmal gerade die Dienstleistungsberufe getroffen hat.
makro: Kassiererin, Busfahrer, Pflegekräfte - systemrelevante Berufe haben viel Applaus bekommen. Und das Versprechen besserer Bezahlung und besserer Arbeitsbedingungen. Wird daraus etwas?
Sell: Nichts würde ich mir mehr wünschen und es wäre überfällig. Aber die Wahrscheinlichkeit ist mehr als gering. Das hat mehrere Ursachen - eine ganz entscheidende ist die, dass das nicht vom Himmel fällt, sondern erkämpft werden muss.
Und alle genannten Bereiche zeichnen sich dadurch aus, dass hier der Organisationsgrad der Gewerkschaften bei den Beschäftigten derart niedrig ist, dass wir es mit ausgeprägten Ungleichgewichten zugunsten der Arbeitgeber zu tun haben.
Wenn sich das nicht ändert und/oder der Staat über eine gezielte Politik der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen Druck auf die Arbeitgeber ausübt - wofür es derzeit keinerlei Hinweise gibt -, dann müssen wir die bestehenden Strukturen in die Zukunft fortschreiben.
makro: In der Finanzkrise vor 10 Jahren hat sich das Instrument der Kurzarbeit als ausgesprochen nützlich erwiesen. Nur: Kann man daraus schließen, dass es diesmal genauso gut wirkt?
Sell: Die Kurzarbeit ist ein sehr wirkkräftiges und höchst sinnvolles Instrument - für eine gewisse Zeit der Überbrückung, am besten für Kernbeschäftigte in mittleren und größeren Unternehmen. Aber wir sollten nicht vergessen: Die Krise 2009 war eine ganz andere als das, was wir heute erleben. Damals war vor allem die Industrie betroffen und bereits im 2. Halbjahr 2009 ging es weltwirtschaftlich wieder aufwärts, eine V-förmige Entwicklung. Das "normale" Leben lief damals weiter.
Heute hat die Krise einen ganz anderen Charakter. Die gesamte Binnenwirtschaft hat schwere Schlagseite bekommen und die Perspektiven auf eine "nur" V-förmige Rezession wie damals wird immer unrealistischer. Und auch die Industrie tut sich heute schwerer, denn viele Lieferketten sind nachhaltig gestört. Kurzarbeit kann helfen, aber eben nur als Überbrückung eines überschaubaren Zeitraums.
Das Interview führte Carsten Meyer.