Gesellschaft
EU-Gipfel: Das große Schachern
Das nächtelange Ringen um Corona-Recovery-Fund und EU-Haushalt offenbarte Züge eines verbissenen geführten Kleinkriegs. Und doch wird es Europa im Großen verändern.
- Datum:
Von Carsten Meyer
Europas strauchelnde Wirtschaft, gepaart mit schwindendem Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union verdichteten sich zuletzt zu einem toxischen Gebräu. Selten hat ein EU-Gipfel die divergierenden Vorstellungen der Mitgliedsstaaten so schonungslos offengelegt.
Und doch haben sich die 27 schlussendlich zusammengerauft. Am Ergebnis ist einiges zu kritisieren. Ganz bestimmt aber sind die Beschlüsse wegweisend, denn in vielerlei Hinsicht hat hier etwas Neues begonnen.
Wer kriegt was?
Der Verhandlungs-Marathon hat ein Finanzvolumen von rund 1,8 Billionen Euro auf die Spur gesetzt. 1075 Mrd. entfallen auf den sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmen, den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre. Zusätzlich munitionieren 750 Mrd. den Corona-Aufbaufonds, bestehend aus 390 Mrd. an Zuschüssen, die nicht zurückgezahlt werden müssen, und 360 Mrd. an Krediten.
Besonders bedacht werden jene Länder, die schwer unter der Corona-Krise leiden wie Italien oder Spanien. Italien wird voraussichtlich die höchsten Auszahlungen bekommen. Premier Giuseppe Conte rechnet vor, dass 28% des Fonds, d.h. 209 Mrd. Euro, nach Italien fließen werden - rund 82 Mrd. Euro in Form von Zuschüssen und 127 Mrd. an Krediten.
Welche Kriterien gelten?
Doch wofür darf das Geld ausgegeben werden und welche Kriterien gelten? Hieran entzündete sich der heftigste Streit. Die Gipfelbeschlüsse definieren zwar Verfahren und Zuständigkeiten. Tatsächlich aber bleibt die Sache durchaus vage.
Die Staaten reichen bei der EU-Kommission Projektvorschläge ein, die den länderspezifischen Empfehlungen der Kommission folgen müssen. Kriterien sind "Stärkung des Wachstumspotentials, Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftliche und soziale Resilienz". Ein "wirksamer Beitrag zur grünen und digitalen Wende" ist ebenfalls Voraussetzung für ein "Go".
Überhaupt sollen 30% aller Mittel dem Klimaschutz zugute kommen. Dies gilt auch für den EU-Haushalt, ist dort aber, sagen wir, nicht unmittelbar erkennbar.
Alle entscheiden mit
Die EU-Regierungen müssen die Kommissionsentscheidung dann mit qualifizierter Mehrheit absegnen. Dies soll garantieren, dass die Zuschüsse nicht einfach im normalen Haushalt der EU-Staaten versickern.
Das von Hollands Regierungschef Mark Rutte, Speerspitze der sogenannten "sparsamen Vier", favorisierte Vetorecht gegen aus seiner Sicht unsinnige Projekte hat es zwar nicht ins Abschluss-Communiqué geschafft. Falls "eine oder mehrere" Regierungen jedoch gravierende Einwände haben, können sie eine Debatte auf dem nächsten EU-Gipfel beantragen. Dann wird ein Projekt zur Chefsache.
Fazit: In der Praxis reden alle mit - nationale Regierungen, EU-Kommission und der Europäische Rat.
Woher kommt das Geld?
Zur Finanzierung wird die EU-Kommission an den Kapitalmärkten erstmals in großem Stile - 750 Mrd. Euro - Anleihen platzieren. Dies stellt einen Paradigmenwechsel dar - und ist definitiv ein Schritt hin zu einer gemeinsamen europäischen Finanzpolitik.
Die Rückzahlung der Schulden soll vor 2027 beginnen und bis 2058 abgeschlossen sein. Um die Tilgung nicht aus dem EU-Haushalt herausschwitzen zu müssen, erhält die Kommission zukünftig eigene Einnahmequellen. Auch das ein Novum. Vorerst stehen diese Quellen aber bloß auf dem Papier: Plastiksteuer, Digitalsteuer, CO2-Grenzsteuer, Finanztransaktionsteuer, Ausweitung des Emissionshandels.
Vertrauen und Solidarität
Die Finanzwelt ist trotzdem erleichtert: Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit Europas kehrt ein Stück weit zurück. Die Anleihen des Aufbaufonds werden als sicherer Hafen gesehen - und als Alternative zum Dollar. Sie werden Kapital nach Europa locken. Der Euro steigt bereits.
Trotz aller Unzulänglichkeiten ist die Einigung von Brüssel Ausdruck europäischer Solidarität inmitten einer existentiellen Krise. Italien, Spanien und Frankreich betrauern bisher fast 100.000 Tote.