Film

Ab 18! - Ich brenne

Der rassistische Mordanschlag von Hanau hat die Frage, wer eigentlich zu dieser Gesellschaft gehört, für eine Gruppe junger Erwachsener zu einem existenziellen Thema gemacht.

Produktionsland und -jahr:
Deutschland 2022
Datum:
Verfügbar in
D / CH / A
Verfügbar bis:
bis 18.02.2025

Am 19. Februar 2020 haben Nesrin, 20, Serkan, 24, und Carlos, 25, ihren großen Bruder und Freund Ferhat verloren. Ferhat Unvar war einer der Menschen, die bei dem rechtsextremen Terrorakt getötet wurden. Welchen Umgang haben sie mit dem Trauma gefunden?

Der Dokumentarfilm von Marcin Wierzchowski begleitet Nesrin, Serkan, Carlos und ihren Freundeskreis, die Teil einer Bildungsinitiative für Empowerment- und Aufklärungsarbeit gegen Rassismus geworden sind. Diese hatten sie mit Ferhats Mutter Serpil am 14. November 2020 gegründet - Ferhat Unvars 24. Geburtstag. Der Tag, an dem Ferhat starb, hat alles für sie verändert. Bis heute sind viele Fragen zum Tathergang und den Umständen ungeklärt, und auch der Umgang der Behörden mit den Betroffenen und Angehörigen hat tiefe Wunden hinterlassen. Gemeinsam mit dem Theaterregisseur Bassam Ghazi beginnen sie, an einem Stück zu arbeiten, das ihrer Trauer und Wut Ausdruck verleihen und ihren Erinnerungen an Ferhat gerecht werden soll.

Der Frankfurter Filmemacher Marcin Wierzchowski hat seit dem Tag des Anschlags in Hanau gefilmt. Für seinen Dokumentarfilm "Hanau - Eine Nacht und ihre Folgen" wurde er mit dem Grimme-Preis 2022 ausgezeichnet. Marcin Wierzchowski kennt seine Protagonistinnen und Protagonisten seit dem Tag des Anschlags. Über zwei Jahre hat er eine große emotionale Nähe zu ihnen herstellen können und hat sie bei der Entwicklung und Aufführung des Theaterstücks begleitet, das im Sommer 2022 auf Kampnagel in Hamburg seine Premiere feierte.

3sat zeigt "Ich brenne" im Rahmen der Reihe "Ab 18!", in der Regisseurinnen und Regisseure mit außergewöhnlichen filmischen Handschriften Geschichten vom Erwachsenwerden erzählen.

Interview mit Filmemacher Marcin Wierzchowski

Unmittelbar nach dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 hattest du damit begonnen, die hinterbliebenen Familien mit der Kamera zu begleiten. 2021 hast du dann einen langen Film ("Hanau - Eine Nacht und ihre Folgen") fertiggestellt, für den du mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurdest. Was hält dich bis heute an dem Thema und bei den betroffenen Menschen?

Porträtaufnahme Marcin Wierzchowski
Marcin Wierzchowski

Auch ich hätte in dem Kiosk stehen können. Mercedes Kierpacz, eines der Opfer, war in meinem Alter als sie dort erschossen wurde. Ich bin auch in so einem Hochhaus aufgewachsen. Das Abwerten von Menschen ist sicher kein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Hier in Deutschland ist die rassistische Idee, dass Menschen wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft weniger wert sind als andere, jedoch oft tödlich. Die Wurzeln liegen in der Vergangenheit und wirken bis heute. Wir schauen gerne in die Welt, um das Böse zu finden, aber der Mörder in Hanau war Ferhats Nachbar. "Biodeutsch", Mittelschicht mit Karohemd, Reihenhaus, abgeschlossenes Studium.

Über 300 Menschen sind in den letzten 40 Jahren durch Rechtsextremisten erschossen, verbrannt oder zu Tode geschlagen worden. Ein unglaubliches Leid in Hunderten von Familien, und es hinterlässt immer wieder zerstörte Existenzen. "Ihr seid hier nicht willkommen, egal was ihr macht", diese Botschaft kommt an. Das muss aufhören. Deshalb bin ich in Hanau. Ich möchte die sichtbar machen, die Betroffen sind von dieser Abwertung, die oft nicht ernst genommen werden und denen bisher wenig zugehört worden ist.

Für deinen neuen Film für die Reihe "Ab 18!" hast du nun die Perspektive der jungen Erwachsenen eingenommen. Hat dich dieser Ansatz vor andere/neue Herausforderungen bei deiner dokumentarischen Arbeitsweise und der Auseinandersetzung mit dem Thema gestellt?

Vielleicht wäre ich selbst gerne wieder 25. Ich habe immer versucht jung und dynamisch zu wirken. Meine Rückenschmerzen sind nicht aufgefallen, aber meinen Haarausfall konnte ich nicht so gut verstecken. Wahrscheinlich bin ich selbst nie richtig erwachsen geworden, deshalb hat mir die Arbeit mit den jungen Menschen viel Spaß gemacht, trotz der Schwere des Themas. Die Herausforderung ist, zu versuchen sich in alle aus der Gruppe hineinzuversetzen, die vielen Perspektiven zu verstehen und sie gleichermaßen ernst zu nehmen. Ich mag die Sichtweisen der jungen Leute, die Leichtigkeit, den Humor und die Direktheit, mit der Konflikte ausgetragen werden. Ich mag das ständige Hinterfragen von Gewissheiten, und ich bewundere die klare und selbstverständliche Haltung trotz ihrer Verletzungen: "Was wollt ihr eigentlich von uns? Wir sind Teil dieser Gesellschaft, aber wir sind so wie wir sind und das ist gut so."

Im Film "Ich brenne" wird eine große Nähe und Vertrautheit zwischen dir und deinen Protagonist*innen spürbar. Inwieweit hast du bei deiner Arbeit einen partizipativen Ansatz verfolgt, und wo verlaufen bei dir die Grenzen der Teilhabe bei einem solchen Filmprojekt?

Es sind ähnliche Biografien und Probleme, die ich selbst kenne. Ihre Geschichten sind auch meine Geschichten. Und wir haben ein gemeinsames Ziel: die Erinnerung wach zu halten und für eine Gesellschaft einzustehen, in der man trotz der Unterschiede keine Angst haben muss, das zu sein, was man ist. Hier ist meine Haltung klar. Und trotzdem versuche ich, nicht zu werten und muss mich aus bestimmten Konflikten heraushalten. Ich versuche diese Konflikte zu verstehen und sie darzustellen, in all ihren Widersprüchen, das ist manchmal nicht leicht. Ich sehe mich in meiner Arbeit ein bisschen als Vermittler zwischen den Welten.

Im Film sind die Arbeiten deiner jungen Protagonist*innen an einem Theaterstück sowie dessen Premiere in Hamburg zu sehen. Wie kam es zu diesem Theaterstück, und wird es davon weitere Aufführungen geben?

Es gab eine Anfrage bei der Bildungsinitiative Ferhat Unvar für eine Podiumsdiskussion bei einem Festival über Rassismus im Theaterhaus Kampnagel in Hamburg. Schnell war aber klar, kein Gesprächspodium zu machen, sondern eine Art Theaterstück. Ferhats Freunde wollten über ihre Erinnerungen an Ferhat sprechen und darüber, was der Verlust für sie bedeutet - aber eben mit der Kraft einer gemeinsamen Aufführung vor einem Publikum, und als Prozess der kollektiven Verarbeitung dieses Anschlags. Sofort war der tolle Regisseur Bassam Ghazi mit an Bord. Bassam ist Theaterpädagoge und arbeitet gerne mit jungen Menschen und Laienschauspielern. Das Stück ist wie ein Denkmal geworden. Eine Art lebendige Erinnerungskultur. Ich hoffe, dass es bald wieder aufgeführt wird.

Am 14. November 2022 wäre Ferhat Unvar 26 Jahre alt geworden. Gibt es vor diesem Hintergrund schon Rückmeldungen seiner Familie und seines Freundeskreises auf deinen Film?

Ich bin total erleichtert, dass der Film sehr positiv aufgenommen wurde. Wir haben beim Schauen zusammen geweint und gelacht. Mir ist es wichtig, dass der Film der Erinnerung an Ferhat irgendwie gerecht wird, wenn das überhaupt geht. Anscheinend ist es gelungen, etwas von der Kraft und Wut und Trauer zu transportieren, mit denen seine Freunde und Familie mit dem Anschlag und dem Verlust klarzukommen versuchen.

Interview: Katya Mader

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