Kultur
"Theater als visuelles Gedicht": Porträt des 3sat-Preisträgers Alexander Giesche
Ein Abend, der in Schönheit den Untergang besingt: Regisseur Alexander Giesche hat Max Frischs "Der Mensch erscheint im Holozän" auf die Bühne gebracht – und das so bilderreich und mitreißend, dass er den 3sat-Preis beim Theatertreffen 2020 erhält. (Fotograf: Daniel Mayer)
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"Der Mensch erscheint im Holozän" von Max Frisch ist eine Erzählung über das Vergessen und Vergehen. Mit dem Verlust des Gedächtnisses verschwindet auch der Mensch, verliert sich und die Kontrolle über das eigene Leben. Nur ein Gefühl der Heimat bleibt. In einem durch ein Unwetter von der Außenwelt abgeschlossenen Bergdorf kämpft Herr Geiser gegen den fortschreitenden Verlust seines Gedächtnisses. Mithilfe kleiner Zettel, die er in seinem Haus verteilt, baut er sich ein Wissensregister auf. Zu seiner Isolation kommt die Sorge, dass durch den andauernden Regen der ganze Berg ins Rutschen geraten könnte.
Regisseur Alexander Giesche nimmt Frischs 1979 erschienenen Text als Ausgangspunkt für seine Inszenierung am Schauspielhaus Zürich, die ganz um die Trias Mensch, Natur, Technik kreist. Er folgt dabei nur lose der Erzählung, sie ist vielmehr Stichwortgeber für immer neue Bilder, die dem Vergessen, dem Abschied eine Form geben. Die meiste Zeit sind nur eine Schauspielerin und ein Schauspieler auf der Bühne, die fragmentarisch über Herrn Geisers Zustand und den des Tals berichten. Die Inszenierung besteht aus klar voneinander abgegrenzten Bildern, Alexander Giesche nennt seine Werke "Visual Poems"“ – und besser könnte man sie auch nicht beschreiben. Er lässt Krankenhausbetten und elektrische Rollstühle tanzen, zaubert Hologramme auf die Bühne und lässt einen erstaunlich realistischen Dinosaurier auftreten. Ein Abend, der in Schönheit den Untergang besingt, könnte man meinen. Auch die Menschheit wird einmal Geschichte sein, oder wie Max Frisch es formuliert hat: "Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen." (Wolfgang Horn, ZDF-Redaktion Musik und Theater)
Zur Person
Alexander Giesche, geboren 1982 in München, studierte am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und bei DasArts in Amsterdam. Von 2012 bis 2014 war er Artist in Residence am Theater Bremen, anschließend ging er für zwei Jahre mit dem Projekt "Future Shock" an die Münchner Kammerspiele. Zentrales Thema ist für ihn das Verhältnis des Menschen zu Digitalität und modernen Technologien. In seinen Inszenierungen wird keine Handlung im gewöhnlichen Sinne erzählt, vielmehr schafft er Atmosphären und Bildwelten, die Alltägliches in neuem, schönem, fremdartigem Licht erscheinen lassen. Mit seinen Arbeiten war er schon beim "Radikal jung"-Festival in München, dem "Festival d’Automne à Paris" und in der Reihe "Immersion" am Haus der Berliner Festspiele in Berlin zu sehen. "Der Mensch erscheint im Holozän" vom Schauspielhaus Zürich ist seine erste Einladung zum Berliner Theatertreffen.
Jurybegründung
Alexander Giesche legt mit "Der Mensch erscheint im Holozän" die erste große Inszenierung zum Thema Klimawandel vor. Für Max Frischs Erzählung aus dem Jahr 1979 erschließt er eine neue Lesart, nach der ein lokales Unwetter (das parabelhaft für die Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit des Protagonisten steht) als planetares Ereignis wahrnehmbar wird. Giesches unaufdringlicher Inszenierungsgestus, seine irisierenden, visuell beeindruckenden Bilder zwischen Fernsehrauschen und Club-Atmosphäre bringen eine meditative Tonlage ins Spiel, die am Theater noch selten ist. Sie eröffnet Denkräume ohne moralischen Imperativ, indes mit wuchtiger Wirkung. So könnte die Zukunft klingen.