Kultur
"Kulturzeit" vom 12.12.2022: Erdogans Krieg gegen die Kurden
Die Themen der Sendung: Erdogans Krieg gegen die Kurden, Korruption in Brüssel, neue Bezahlmodelle für Kultur, Annie-Ernaux-Doku, Film "Drei Winter".
- Produktionsland und -jahr:
- Deutschland 2022
- Datum:
Die Themen der Sendung:
Erdogans Krieg gegen die Kurden
Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wird es eng. Die hohe Inflation treibt die Menschen in die Armut und die Popularitätswerte des Autokraten sind auf dem Tiefststand. Beobachter halten es für ausgeschlossen, dass er die Wahl 2023 gewinnen könnte. Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung, und so bringt sich Erdogan gegen die Kurden in Stellung. Und die geraten zwischen die Mühlsteine seines Machtstrebens. Seit dem 19. November 2022 fliegt die türkische Luftwaffe – von der westlichen Welt weitgehend unbeachtet – verstärkt Angriffe auf kurdische Städte im Nordosten Syriens und im Norden Iraks. Dutzende Menschen kamen dabei ums Leben. Kampfdrohnen und Artilleriegeschütze zerstören gezielt Öl- und Gasfelder, ein gerade erst fertiggestelltes Krankenhaus wurde dem Erdboden gleich gemacht. Erdogan hat für die kommenden Wochen eine Bodenoffensive in Nord-Syrien angekündigt, für die kurdische Bevölkerung bedeutet das Flucht, Vertreibung und unendliches Leid. Vorwand für die Angriffe der türkischen Streitkräfte auf die Kurdengebiete war der Anschlag in Istanbul, den Erdogan trotz heftiger Dementi von Seiten der kurdischen Opposition der PKK und der PYD anlastet. Wir haben mir dem deutsch-türkischen Journalisten Can Dündar, dem kurdischen Arzt Basrawi Ali und der kurdisch-türkischen Künstlerin Zehra Dogan über Erdogans Vorgehen gegen die Kurden gesprochen.
Korruption in Brüssel - Gespräch mit Nico Semsrott
Eva Kaili, erst bekannte Nachrichtensprecherin in ihrer griechischen Heimat, später Hoffnungsträgerin der sozialistischen Partei Pasok und schließlich Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, ist über einen handfesten Korruptionsskandal im Zusammenhang mit dem Golfemirat Katar gestürzt. Die 44-jährige Abgeordnete der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament wurde am 9. Dezember festgenommen. Einen Tag später wurden ihr die Befugnisse als Parlamentsvizepräsidentin entzogen. Am 11. Dezember musste die griechische Politikerin in Untersuchungshaft, nachdem die belgische Bundesstaatsanwaltschaft Ermittlungen wegen bandenmäßiger Korruption und Geldwäsche eingeleitet hatte. Die griechischen Behörden froren dann sämtliche Vermögenswerte Kailis ein: "Bankkonten, Schließfächer, Firmen und alle anderen Vermögenswerte", wie die griechische Anti-Geldwäsche-Behörde erklärte. Die Aufregung über die nun aufgeflogene Korruptionsaffäre im Herzen Europas ist groß - und noch größer die Frage, ob sie ein Einzelfall ist oder hinweist auf eine bisher ungeahnte Korruptions-Kultur, eine fehlerhafte Struktur, die sie ermöglicht? Darüber sprechen wir mit dem Kabarettisten Nico Semsrott.
Pay what you can - Mehr Kultur für alle
Im dritten Krisenwinter testet der deutsche Kulturbetrieb neue Bezahlmodelle. Das Ziel: die Menschen zurück in die Theater- und Konzertsäle zu locken. David Bowie, Amy Winehouse und Jimi Hendrix für neun Euro. Seit Oktober zeigt das Theater Hagen sein Rock-Pop-Grunge-Theater-Musical Heroes zum günstigen Einheitspreis. Die Rechnung geht offenbar auf: Seit Einführung des Billigtickets hat sich der Zuschauerzuspruch nahezu verdreifacht. Das Haus ist voll. Darsteller, Publikum und Leitung des Stadttheaters in Nordrhein-Westfalen sind glücklich. "Wenn wir im September ungefähr 30 bis 35 Prozent ausgelastet waren, dann waren wir plötzlich im Oktober bis zu 90 Prozent ausgelastet", sagt Intendant Francis Hüsers. as Publikum hat sich stark verjüngt, neue Kreise wurden erschlossen - ein Erfolg auf der ganzen Linie. Nicht einmal die Abonnenten hätten sich über den Preisnachlass beschwert, sagt Hüsers. Ein volles Haus sei einfach ein schöneres Konzerterlebnis.
Offenbar schätzt das Publikum neue Bezahlmodelle. Egal, ob es das Neun-Euro-Ticket ist oder ob des andere, neue Experimente sind. Christoph Drescher, Intendant der Thüringer Bachwochen, war bundesweit einer der Ersten, der dem Publikum anbietet, nur so viel zu zahlen, wie es kann oder will. Die meisten halten sich an den empfohlenen Richtpreis, eine Besucherin zahlt freiwillig 30 Euro, weil sie "die Idee gut findet, auch anderen, die weniger Geld haben, den Zutritt zur Kultur zu ermöglichen". Der Mindestpreis ist ein Euro. Pay what you can - das ist Kultur für alle. Kann dieser Test ein Modell für die Zukunft sein? Gut möglich. Noch sind es bundesweit bislang einzelne Experimente, aber die Kulturbranche schaut ganz genau hin.
Doku: "Annie Ernaux - die Super-8 Jahre"
Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux hat gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot einen sehr persönlichen Dokumentarfilm herausgebracht. Darin versammelt sie alte Super-8 Urlaubsvideos, die ihr Ex-Mann zwischen 1972 und 1981 gedreht hat, und versieht die Bilder mit Kommentaren. Angereichert mit einem Interview und Fotos entsteht ein erstaunlicher Blick auf die Autorin und ein Zeitdokument. Der film startet am 29. Dezember in ausgewählten Kinos.
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Film "Drei Winter"
Dieser Film ist eine Zumutung – im besten Sinne. Mit langen Einstellungen und einem Bildausschnitt, der den Blick fokussiert, zeigt er den Alltag in den Schweizer Alpen. Jenseits einer Postkartenidylle geht es hier um ganz normale Leute aus den Bergen. Umgeben von einer Welt, die ihnen oft kalt und undurchsichtig gegenübersteht. Ihr existentialistischer Kampf wird mit gr0ßer Wucht auch für den Zuschauer erfahrbar. "Ich glaube, dass Leute in den Bergen, durch diese unmittelbare Natur, durch Felsstürze, Lawinen, Schneestürme, was auch immer, einfach eine Naturgewalt zu spüren bekommen, die einem auch zeigt: Man ist gewissen Dingen ausgeliefert, die kann man nur bedingt beeinflussen", sagt Regisseur Michael Koch. "Ich glaube, diese Erfahrung, an so einem Ort aufzuwachsen, spiegelt sich in deren Körpern. Auch in deren Verhaltensweise teilweise. Und das wollte ich unbedingt transportieren." Deshalb setzt Michael Koch in seinem zweiten Spielfilm, der auf der Berlinale eine lobende Jury-Erwähnung fand, ganz auf die Kraft von Laiendarstellern. Nur sie könnten den besonderen Menschenschlag verkörpern, der in den Bergen heimisch ist: wortkarg, arbeitsam, tief in der Gemeinschaft verwurzelt. Der auf eine besondere Art mit Liebe und Verlust umgeht. Die titelgebenden "Drei Winter" sind die Zeit, die dem Paar Anna und Marco vergönnt bleiben, denn Marco hat einen Gehirntumor, durch den er sich komplett verändert. Der Film konzentriert sich vor allem auf Anna und auf die Frage, wie sie mit den Veränderungen umgeht. "Drei Winter" ist ein grandioses Kammerspiel in den Schweizer Alpen.