Gesellschaft
Sister Mary von Nairobi
Die kleine Mary wächst in der Nachkriegszeit in einem Vorort Dublins in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Orden "Sisters of Mercy" bietet ihr eine Chance, das traditionsverhaftete Irland hinter sich zu lassen.
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Mary ist eines von sieben Kindern. Ihr Weg scheint vorgezeichnet - in einem erzkonservativen, katholischen Umfeld und Elternhaus. Die Schule, die erste große Liebe - vielleicht schon der Partner fürs ganze Leben? Doch diese Perspektive ist für Mary wenig attraktiv.
Sie sucht das Abenteuer, wenn auch auf ungewöhnliche Weise: Der Orden "Sisters of Mercy" bietet ihr eine Chance, das traditionsverhaftete Irland hinter sich zu lassen. Sie lässt sich nach Afrika versetzen und taucht dort ein, in eine nahezu unüberschaubare Welt der Not und Armut. Hier findet die temperamentvolle Frau ihr neues Zuhause - in den größten Armenvierteln Afrikas. Jenen von Nairobi. Das ist nun vierzig Jahre her. Heute gilt sie als "Mutter der Kinder von Mukuru".
Die Geschichte von Sister Mary:
Quelle: ORF/Gernot Lercher
In den Armenvierteln von Nairobi leben mehr als zwei Millionen Menschen. Gefangen in einem Sumpf aus Not und Elend, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Für Sister Mary kein Grund aufzugeben. Seit 40 Jahren stemmt sich die kämpferische Irin gegen Korruption und Misswirtschaft in der kenianischen Hauptstadt, hat Schulen und Lehrwerkstätten inmitten der Armenviertel errichtet und damit Zehntausende Slumbewohner vor Verbrechen, Gewalt und Hunger bewahrt. Die Wurzeln für ihr unbändiges Streben nach Gerechtigkeit liegen in Irland. Dort ist sie als eines von acht Kindern aufgewachsen - geprägt von den Wertvorstellungen ihres Vaters. Der hat als junger Mann an der Seite des legendären Freiheitskämpfers Michael Collins für Irlands Unabhängigkeit gefochten.
Für seinen Film reiste Gernot Lercher nicht nur nach Nairobi, sondern begleitete Mary Killeen auch auf einem ihrer seltenen Heimatbesuche in Irland. Dabei hat sie dem Filmteam buchstäblich die Tür zu ihrer Familiengeschichte in Dublin geöffnet. Im Rahmen einer Willkommensfeier zu Ehren von Mary erinnern sich ihre Geschwister an die gemeinsame Kindheit und ihren Vater, der nach seinem Kampf für Irlands Unabhängigkeit als friedfertiger Polizist das Überleben der Familie sicherte. "Er hat nicht viel über die Zeit im Bürgerkrieg gesprochen, wir wissen aber, dass er Menschen getötet hat. Das hat auf seiner Seele einen dunklen Schatten hinterlassen. Deshalb war für ihn der Einsatz von Waffen zur Konfliktlösung später auch immer ein Tabu", erinnert sich Sister Mary an ihren Vater. Sein Grab liegt nur wenige Meter von Michael Collins' letzter Ruhestätte entfernt.
Quelle: ORF/Gernot Lercher
Sister Mary blickt zurück auf ihre Anfänge, als junges Mädchen und Jugendliche in einem Irland der Nachkriegszeit, bestimmt von ständigen Entbehrungen. Sie erzählt von ihrer ersten großen Liebe und deren Scheitern, der harten Schule auf der Straße, einer fast todbringenden Krankheit, ihrem Eintritt in den Orden der "Sisters of Mercy" und ihrer Ausbildung zur Lehrerin. Als solche wird sie Mitte der 1970er Jahre von ihrem Orden der "Schwestern der Barmherzigkeit" auch nach Nairobi geschickt. Schnell erkennt sie dort das Fehlen von Schulen in den Slums als größtes Problem. Beharrlich und entschlossen geht sie daran, diesen Missstand zu bereinigen. Ihre Überzeugungskraft und Furchtlosigkeit, aber auch ihr Humor und ihre stets realistische Lebenseinstellung sind die stärksten Waffen, um Widerstände zu überwinden. Waren es zu Beginn einige kleine Klassenzimmer in Blechhütten, hat Sister Mary mit der Unterstützung internationaler Hilfswerke bis heute vier große Gebäudekomplexe errichtet. 5.000 Kinder und Jugendliche können hier nun jährlich in die Schule gehen und schaffen damit vielleicht einmal den Schritt aus dem Slum.
Ein Gefühl, als wäre man mit einer Heiligen unterwegs
Quelle: ORF/Gernot Lercher
"Mit Sister Mary durch die engen, morastigen Gassen zwischen den Blechhütten zu gehen, wird mir immer unvergessen bleiben. Jeder scheint sie zu kennen, keiner, der nicht direkt oder indirekt von ihren Hilfsprojekten profitiert hätte. Man hat das Gefühl, man ist mit einer Heiligen unterwegs", erinnert sich Lercher an die Dreharbeiten. "Du kannst so heilig sein, wie du möchtest", sagt Sister Mary, "wenn du nichts gegen die Armut rund um dich tust, bist du überhaupt nicht heilig, ganz im Gegenteil!"
Die Ordensschwester ist nicht nur nach Bränden im Armenviertel sofort zur Stelle, sondern stemmt sich auch gegen kriminelle Kartelle, die ihr die wertvollen Schulgrundstücke streitig machen wollen. Und sie nimmt es mit der Müllmafia auf, die ihren Abfall in den Slums illegal deponiert und den Bewohnerinnen und Bewohnern damit auch noch den letzten Lebensraum nimmt. Wen wundert es da noch, dass die streitbare Irin auch von einem Gerichtsverfahren und einer Gefängnisstrafe bedroht wird. "Ich gehe gerne für einige Zeit in Gefängnis, dann wird sich das Interesse der Öffentlichkeit an unseren Schulen und den Ungerechtigkeiten in den Slums noch weiter verstärken", sieht Sister Mary auch diese Angriffe pragmatisch.
Quelle: ORF/Gernot Lercher
Beim jüngsten Besuch von Papst Franziskus in Nairobi durfte Sister Mary im Namen aller Hilfsorganisationen zu ihm sprechen. Nicht zur Freude der Stadt Nairobi, denn die Irin hat nicht mit Kritik an der lokalen Politik gespart, was man ihr dort sehr übel nahm. Doch Sister Mary reagiert darauf mit einem Schulterzucken: "Die Politiker hier hatten genug Zeit mir zu helfen und haben es nicht getan. Ich habe nur die Wahrheit gesagt. In meinem Körper fließt eben irisches Blut, und das treibt mich immer weiter an. Denn die Probleme hier in Nairobi werden nicht kleiner."
Gernot Lercher erzählt die atemberaubende Lebensgeschichte der ebenso beherzten wie unerschrockenen Irin Mary Killeen, die auszog, um die Welt ein klein wenig besser zu machen, ohne dabei ihre unsentimentale Sichtweise auf das Leben und das Sterben zu verlieren. Wo sie denn gerne ihre letzte Ruhestätte finden möchte? "Irland und Kenia, beide Länder sind meine Heimat. Außerdem halte ich wenig davon, Särge durch die Welt zu fliegen. Mein Grab wird also dort sein, wo ich sterbe."